Oper und Parabel

Es ist kalt, und Bohème ist Mist. Wenn man sterben muss, weil die Armut ein Kellerzuhause hat, wo Menschen sich versuchsweise den Luxus identischen Lebens im Unwahren leisten. Ein dunkler Ort, dem jeglicher Charme eines imaginierten Bohèmelebens abgeht. Jeder schafft sich seine Enklave in der vorzüglichen Inszenierung von Thomas Wünsch am Pfalztheater Kaiserslautern.
Colline, der sich selbst inszenierende Philosoph im Existentialistenlook, Typus André Glücksmann, schwarzer Ledermantel und strähnenverhangene Stirn, der einzige, der sich am Ende distanziert - sezierend und mit analytischem Blick sich dem Tod stellen kann (Rodolfo wird beteiligt „mit sterben“).
Che Guevara-Verschnitt Schaunard, der den prekären Irrsinn nur koksend zu ertragen weiß, der das Lächerliche im Absurden jeder Tragödie körperlich auslebt und mit seinem Lachen die Grenze zwischen Mythos und Philosophie markiert, an der die Musik ihren Ort hat.
Maler Marcello, der rollkragentragende Typ Oberstudienrat, der hin und wieder ausbrechen möchte, ohne die bürgerliche Existenz aufzugeben. Sein Verhältnis zu Musetta zwischen interessengeleiteter Offener Beziehung und in Eifersucht sich geltend machenden Besitzansprüchen, gelebter Widerspruch einer Übergangs- und Verfallszeit.
Musetta, die körperbetonte Grisette, die den Doppelmoralisten Benoît ausnimmt als sei sie die Erinye Proudhons. Eine, die im Hier und Heute ihr Heil sucht.
Rodolfo, der Arrangierte. Anzug tragender Anbiedermann, dessen Poesie die Welt verzaubern, aber nicht verändern will. Bis er der einen (einzig möglichen?) großen Liebe begegnet, die ihn zu einem Schwebenden macht, verletzbar und zeitweilig überfordert und schlussendlich ein erlöster (weil zum Mitleiden fähiger) Erlöser. Für Mimi, die mit erhobenen Armen in die seinen eingebettet mit ihm in die Ewigkeit der Liebe zu entschweben scheint, um dann, die Grenze zwischen Nähe und Absturz markierend, unsicher wie auf dem Schwebebalken auf ihn zuzugehen, um letztlich von ihm in der selben Haltung wie im Liebesduett als Sterbende gehalten zu werden. Personenführung vom Feinsten! Wie auch sonst, wenn die Statisten wie Profis auftreten: Wie der wunderbare gingerbread man, Schneemann und Schneebraut, die Schneeflöckchen oder der Eisbär. Ein Chor mit mediterran-fröhlichen Weihnachtstraumkostümen und beeindruckender Choreographie. Einmal mehr vorzüglich eingestimmt von Ulrich Nolte. Ein Weihnachtsmarkt so ansprechend, dass man am liebsten auf die Bühne steigen möchte, um mit zu tanzen, mit zu staunen, zu trinken und zu feiern. Mit gebührendem Abstand zu Parpignol, der auch eine andere, dunkle Seite zu haben scheint (eine Paraderolle für Shin Nishino).
Wünsch gelingt es, eine Geschichte zu erzählen, die dem Text (und erst Recht der Musik!) gerecht wird und zugleich eine meisterliche Parabel zu entwerfen auf kommende lausige Zeiten, wenn wieder der nackte Boden das Lager der ums Überleben Kämpfenden sein wird, zersprungene Scheiben und tote Fensterhöhlen, die den kalten Wind einer globalisierten Welt ungehindert eindringen lassen. Treppen, die letztlich immer wieder nur eine Richtung kennen: Nach unten. Ein Himmel, der sich beim Auftun bereits als Dämmerung zeigt. Das kalte, seelenlose Kunstlicht einer erbarmungslosen Welt- und Wirtschaftsordnung, mit einem künstlichen Mond als Werkzeug des einstürzenden Himmels, gewaltig wie eine Abrissbirne, die selbst die Mauern der letzten und noch so armseligen Refugien einstürzen lässt.
Wünsch widersteht der Gefahr einer Verkitschung des Bohèmelebens ebenso wie der Verharmlosung von Armut. Und er schafft es dennoch, zu Tränen zu rühren, weil er Anmut und Würde an den entscheidenden Stellen zum Ausdruck bringt. Bei allen Implikationen bleibt La Bohème in dieser Inszenierung die wunderschön erzählte Geschichte einer großen, tragischen Liebe.
Voller Italianità das Dirigat von Till Hass. Ein Klangvergnügen, so empathisch und voller Emphase, rauschend, um dann wieder feinste Differenzierungen zu Gehör zu bringen, so dicht am Geschehen, dass die Töne jeden Widerstand der verkrampften Seele brechen, die Hörer mit nimmt, hinein nimmt und erst wieder zum Schlussjubel entlässt.


Das Bühnenbild von Thomas Dörfler kongenial. Kaum Graffiti, dafür sinistre Verschandelungen an den Wänden, die nicht höher reichen als der Erwartungshorizont der Hoffnungsarmen. Die beiden Treppen zur linken und rechten die Konstante, der Bühnenhintergrund die Variable. Eine intelligente Reduzierung, die die Gleichzeitigkeit von Glanz und Elend, Bohème und Krisis dokumentiert. Dörfler gelingt es einmal mehr, die Botschaft des Regisseurs in Bauten und Bilder umzusetzen und zu verstärken und gleichzeitig seine perfekte Etheologie und seine damit verbundene Ästhetik einzubringen.


Ein eingespieltes Team: Wünsch und Heiko Mönnich. Allein seine Kostüme, bei denen jedes Detail auf einen Gedanken zurückschließen lässt, deren Ästhetik Verspieltheit ohne Hang zur Überstilisierung aufweist, an denen man sich nie satt sehen kann, machen mindestens einen weiteren Besuch zu einem Muss.
Wie die Sänger. Wohl dem Haus, das bis auf eine (vorzügliche) Ausnahme mit dem eigenen Personal eine solche stimmliche und gestalterische Qualität auf die Bühne bringt. Adelheid Fink, eine Mimi, wie sie präsenter, anrührender nicht sein kann. Mit dem Wagnis Realismus. Ein Husten, das dem Hörenden noch weh tut. Todesängste, die sie schütteln, Agonie, die verstört, bei der man schamhaft wegsehen möchte. Nur die Großen können Leiden, Schmutz, Schuld, Hässlichkeit und Elend darstellen. Adelheid Fink ist angekommen in diesem exklusiven Kreis. Auch stimmlich: Ein Sopran, der ungeheuer variantenreich ist, der den Sinn in expressive Töne überträgt, mit der Präzision eines Instrumentes. Gut für jede Bühne der Welt. Steffen Schantz entwickelte sich in den letzten Jahren zum Ausnahmetenor. Schon immer mit einer in den Bann schlagenden Belcanto-Stimme ausgestattet, kommt nun eine ausgereifte Technik hinzu. Und: Schantz lässt (endlich) Gefühle zu, die er sonst eher zurückhaltend auf die Bühne brachte: Erotik, die man spürt, wenn Rodolfo Mimi zum ersten Mal begegnet. Der Schauspieler Schantz hat den Sänger Schantz eingeholt, der großen Karriere steht nichts mehr im Weg. Ein Bariton zum Verlieben Gukhoe Song. Männlich, jeder Ton wie eine unsichtbare Leiter, auf der man in den Himmel steigen möchte. Der Marcello. Bariton Daniel Böhm als Schaunard überzeugt ebenso. Endlich ein Regisseur, der ihm keine Albernheiten zumutet, aber die Kunst der Groteske schon. Die Stimme betörend einschmeichelnd, klangschön und technisch brillant. Alexis Wagner ein beeindruckender Colline. Seine sonore Stimme äußerst variabel. Gleich stark in den Höhen wie in den Tiefen. Idealbesetzung für Musetta: Arlette Meißner brilliert, betört und glänzt, hübsch, lasziv und verführerisch. Die ihre Partien meistert, mit ihrem glockenklaren Sopran, der hörbar an Weite gewonnen hat. Frank Gershofer ein herrlicher Hausmann und Nabob, in der Rolle des Benoît. Ein Vergnügen! In den Kleinrollen Hubertus Bohrer als Sergeant und Roland Goroll als Zöllner.
Das Publikum dieses Weihnachtsmärchen der anderen Art verzückt und begeistert. Man konnte sich nicht erinnern, dass jemals ein solcher Zwischenapplaus zur Pause zu hören war. Und am Schluss sechzehn Minuten Dauerklatschen, mit sonst eher seltenen Bravorufen auch für das Regieteam. Die Ära Reitmeier wird zum Mythos zu Amtszeiten.

Frank Herkommer