www.opernnetz.de vom 27. Januar 2012


Alles fließt
Panta rhei. Alles fließt. Der Rhythmus fließt durch die Silben, Worte und Sätze, erzeugt Melo-dien. Die Sprache ist unterwegs zur Musik, die in Orffs Carmina Burana bis an die Grenze der Vollkommenheit gelangt. Womit könnte man das anschaulicher machen als mit Astutuli, jenem augenzwinkernden Schmankerl, das Orff den Carmina nachreicht, das aber als Pro-pädeutikum Orffscher Musiktheorie zu sehen und vor allem zu hören ist – wenn der gelernte Regisseur, Musiker, Sänger und Schauspieler Roger Boggasch als Dirigent für Sprechende wie für das Orff‘sche Orchester mit fünf Mitgliedern aus den Reihen des Hausorchesters glänzt; und wenn die gesprochenen Worte ihre innewohnende Melodie offenbaren, ihren Rhythmus verändern, die Höhen und Tiefen, den Akzent und das Tempus, ihrer Alltagsmechanik absagen.

Johannes Reitmeier, Noch-Intendant am Pfalztheater Kaiserslautern, bekannt für seine Kreativität wie für sein Faible fürs Ungesehene, neu Verknüpfte, das Gewohnte Über-steigende, lässt beide Werke an einem Abend aufführen, was restlos überzeugt, mit dem Konzept wie als schelmischer, gaglerischer Regisseur der Astutuli. Stefano Giannetti, Ballett-direktor und Chefchoreograf am Haus,  begeistert in ungewohnter Funktion als Regisseur, einmal mehr als Choreograf  und gemeinsam mit Reitmeier als Ausstatter. Das sind zwei Ästheten mit Gespür für schlichte Eleganz, farbverliebte Gewandungen, Körperwelten, hier das Antierotikon Unterwäsche, da Trikots der Tänzerinnen und Tänzer, die nur einem huldi-gen: Der sinnlichen und der seelengegründeten Schönheit, die alle Mitglieder der Company in Bewegung, Mimik und Ausstrahlung auszeichnet, die Italianità, mit der Giannetti Kaisers-lautern verzaubert. Ein paar Bänke, schon entsteht ein Bauernstadel. Mehr braucht es nicht für Astutuli. Ein angedeutetes griechisches Amphitheater für den vorzüglichen Chor, eine mittelalterliche Tafel, den Rest der Carmina erzählen die Chöre, Sängerin und Sänger, das Ballett – Stringenz statt Opulenz.

Orff spielt in Astutuli, zu übertragen mit „die Witzigen“, „die Gewitzten“ oder „die Neunmal-klugen“, mit dem Motiv aus Des Kaisers neue Kleider. Reitmeier lässt das fast Bayrische ins breiteste Lautrer Pfälzisch übertragen und als Übertitel mitlaufen, jeder Nichtwestpfälzer weiß nach dieser Aufführung das Bayrische umso mehr zu schätzen. Giannetti gibt bei der Carmina klugerweise in der Leuchtschriftzeile jeweils nur den lateinischen Titel des Liedes an, verzich-tet zu Gunsten des Augenmerks auf das Ballett auf die Übersetzung des gesamten Textes. Umso faszinierender, wie sich die Geschichten ohne Worte erzählen, anrühren, aufwühlen und ergreifen.

Der Reihe nach. Ein wandernder Gagler, hinreißend dargestelllt von Stefan Kiefer, dem die diebische Freude ins Gesicht geschrieben steht, Verführer, Demagoge, Possenreißer, assis-tiert von einem nicht mehr taufrischen Nummerngirl, die ewig junge Geertje Nissen, zieht einer ganzen Dorfgemeinschaft die Klamotten aus und das Geld aus der Tasche. Schuld hat am Ende natürlich das lachende und darob wüst beschimpfte Publikum, was dessen Gaudi nur neue Nahrung gibt. Zwei Landsterzerinnen, die den richtigen Ruch haben und zeigen, wie viel komödiantisches Potenzial in einer Dramaturgin und in einer Regieassistentin,  Susanne Bieler und  Barbara Kerscher, stecken können. Reitmeier integriert weitere Akteure, die aus anderem Kontext dem Publikum bekannt sind. Etwa den Ausstatter Thomas Dörfler, der sein Geld auch als Kabarettist oder Volksschauspieler verdienen könnte, in der Rolle des Bürgermeisters, der so gerne die Contenance halten würde, bevor er dann doch seinen Sauzorn, einem Gerhard Polt würdig, herausschreit. Ein Vorsitzender des Fördervereins, der den Wachter in Polizeiuniform gibt, ist Michael Krauss, als versagender Hüter so naiv wie dienstbeflissen, dabei als Protagonist so abgebrüht, dass keiner merkt, dass er aus der Sparkassenwelt auf die Bühne entsprungen ist. Dazu kommt ein Chor, der in seine Sprech- und Spielrolle verliebt sein muss; wenn sich alle am imaginierten Mahl erlaben, Fabeltieren nachstellen, sich jucken, und es sie nicht juckt, nur in Unterwäsche ihr neues, natürlich nicht vorhandenes Gewand vorzuführen. Herr Intendant trägt lang.

Zu den Carmina Burana. Giannetti beherrscht Raumaufteilung und Personenführung. Im eindringlichen, unter die Haut gehenden Schlusslied tritt der Chor nach vorne, ohne auf-dringlich zu werden, unwiderstehlich in seiner expressiven Suggestionskraft, einstudiert von Ulrich Nolte, verstärkt durch den Extrachor und den Kinderchor des Pfalztheaters, auch diese beiden Chöre eingespielt, abgestimmt und auf einem erstaunlich professionellen Niveau.  Das ist große Chormusik. Susanne Pemmerl schmeichelt sich in die Seelen ein mit ihrem strahlenden Sopran, mit Peter Floch gastiert ein Tenor mit Belcantoformat, Daniel Böhm ist ein feiner Bariton mit mühelos gemeistertem Falsett und mit einer eleganten Färbung.

Die Grundidee, die Gesänge vom Ballett illustrieren zu lassen, trägt. Körper, Bewegungen, die eins werden mit der Musik. Die Korrelation zwischen Musik und Humanum aufzeigen; bewegte Noten; dann Ausdruckstanz, Körper, die zu Metaphern werden, mit Bewegungen, die nicht unsere sind, aber sein könnten, jenseits unserer Verschränkungen und Verstell-ungen. Jetzt erzählt Giannetti eine Geschichte, und wenn alle über den anmutigen Schwan herfallen, liegt Beklemmung und Rührung über dem Theaterraum, auch ohne einen Text zu kennen. Drei Tanzende begleiten den ganzen Abend über die Singenden als Hermeneuten, vereinen sich mit ihnen zu wunderbaren Figuren, ihre Aufgabe, das Alter Ego darzustellen, untermalend. Chris Kobusch, von dem eine ans Hypnotische grenzende Ausstrahlung aus-geht, ist Böhm zugeordnet, Flavia Samper ist die Schattenfrau für Susanne Pemmerl, grazil und voller Energie in einem, Salvatore Nicolosi interpretiert auf anmutige Weise Peter Floch. Ein unglaubliches Tempo, das das Ballett vorlegt, ohne angestrengt zu wirken, eine Ab-stimmung und Reife, die nicht andeutet, wie kurz man erst in dieser Besetzung zusammen-arbeitet. Die ganze Company hat inzwischen ein hohes Niveau erreicht, das internationalen Standards entspricht. Die weiteren vorzüglichen Protagonisten sind Letizia Cirri, Laure Courau, Eleonora Fabrizi, Gabriella Limatola sowie Daniel Abbruzzese, Riccardo Marchiori, Kei Tanaka und Sobir Utabaev.

Das Publikum, viele junge Menschen darunter, ein fast ausverkauftes Haus an einem Donnerstag, ist tief beeindruckt, gerührt und im Innersten angesprochen. Dankbarer, lang anhaltender und jubelnder Applaus für einen großen Abend.


Frank Herkommer